Dass Menschen davon überzeugt sind, mit der richtigen Einstellung und individuellen Anstrengung alles leisten und erreichen zu können, ist im Kapitalismus wesentliche Ideologie. Dementsprechend ist es logisch, dass auch Behinderte und Kranke nicht nur regelmäßig mit der Erwartung, Leistung zu erbringen, konfrontiert sind, sondern auch selbst überzeugt davon sind, ihres ‚eigenen Glückes Schmied‘ zu sein…
Im Rahmen einer Themenreihe mit dem Titel ‚Mittelpunkt Mensch‘ berichtete Mirko Smiljanic im Deutschlandfunk am 7. Februar über einen Mann mit multipler Sklerose, der im Sport seinen Umgang mit der Erkrankung gefunden hat. Martin Schmid klettert erfolgreich und leitet eine Gruppe, die Menschen mit verschiedenen Behinderungen das Klettern ermöglicht, wobei er betont, danach gingen „alle mit Verbesserungen nach Hause, die Verbesserungen sind oft nicht dramatisch, aber sie helfen, mit dieser Krankheit umzugehen und sich auch einfach besser zu fühlen.“
Soweit, so gut. Sport ist ja tatsächlich eine Möglichkeit für so vieles, er ist gut fürs Gefühl und für den Körper, für Selbstbewusstsein und Gesundheit. Und selbstverständlich kann er gerade bei körperlichen Einschränkungen immens viel bewirken; nach dem Segeln, Gerätetraining oder der Physiotherapie kann ich manchmal sogar stehen, habe weniger Spastiken und hoffe, durch regelmäßiges Training den ein oder anderen Muskel zu stärken oder ihn zumindest davon abzuhalten, sich vollständig und für immer zu verabschieden. Sogar neuronale Neuverknüpfungen sind möglich, insofern ist im Sport wirklich eine Idee von Heilung enthalten.
Aber mindestens so wichtig ist die Gewissheit, dass meine Erkrankung gegen mich arbeitet – wenn Nervenfunktionen gestört sind und potenziell weiter zerstört werden, ich dabei nie wissen kann, ob und in welchem Ausmaß das geschieht, dann habe ich einen Teil des Geschehens nicht in der Hand. Auch dass mich Schmerzen, psychische Belastungen oder nicht zuletzt all die anderen, abgefuckten Verhältnisse im Kapitalismus (Lohnarbeit oder keine Lohnarbeit, Barrieren, Sexismus, …) tendenziell immer davon abhalten können, Sport zu machen, Leistung zu erbringen, ist bei der ganzen Angelegenheit zu bedenken.
Und genau das tun Martin („beim Klettern kann man sich nicht Siezen“) und der Deutschlandfunk leider nicht.
Stattdessen berichtet Smiljanic über den Kletterer mit zwölf Jahren Diagnose, „dass er MS-krank ist, sieht ihm niemand an.“ Und gleich im Anschluss lässt er ihn diesen glücklichen Umstand begründen: „Ich führe das darauf zurück, dass ich sehr konsequent lebe, dass ich mich sehr konsequent ernähre, dass ich mich viel bewege, dass ich eine intakte Familie habe, dass ich gelernt habe, nach vorne zu schauen und nicht zurück.“
Dieser Kausalzusammenhang zwischen dem, was der 58-jährige leistet und der Tatsache, dass seine Erkrankung glücklicherweise, warum auch immer, nicht sehr weit fortgeschritten zu sein scheint, bleibt in der gesamten Berichterstattung unhinterfragt stehen. Stattdessen beschreiben Adjektive wie ‚kraftvoll‘ und ‚spektakulär‘ die ‚Höchstleistungen‘ von Martin Schmid, in dessen Geschichte ein Rollstuhl nur ein einziges Mal als Schreckensszenario vorkommt, als er kurz nach der Diagnose fürchtet, nie wieder Urlaub machen zu können: „Das ist ein riesiger Schock und ich kann mich daran erinnern, dass meine Frau nach Urlaubsorten gesucht hat, wo man mit dem Rollstuhl hinfahren kann.“
Es ist die eine Sache, dass der Betroffene selbst seine Situation derart (v)erklärt. Warum sollte sein Weltbild ein anderes sein, als das derjenigen, die ihren Gesundheitszustand auf ihren Säure-Basen-Haushalt zurückführen? Aber dass der Deutschlandfunk diese Perspektive unkritisch wiedergibt und medial wieder einmal dieselbe Erfolgsstory inszeniert wird, die Geschichte von dem Behinderten (in diesem Fall akut von Behinderung Bedrohten), der das Elend (den Rollstuhl!) allein durch individuelle Kraft und die richtige Einstellung abgewendet hat, das ist das größere Problem. Wenn Journalismus nur die heldenhaft anmutenden Menschen darstellt, dann trägt das zu dem undifferenzierten gesellschaftlichen Bild bei, das unterteilt in diejenigen Übermenschen, die es trotzdem schaffen und diejenigen, die so richtig behindert sind und scheitern. Das suggeriert: Es ist letztendlich alles eine Frage des Willens.
Da hat es der Deutschlandfunk möglicherweise gut gemeint, davon kann ich mir allerdings auch nichts kaufen, deshalb würde ich ganz einfach sagen: scheiße gemacht. Im Übrigen mutet die ganze Themenreihe ein wenig willkürlich an, wie der Advents-Schwerpunkt einer christlichen Organisation, die mal alle thematisieren will, die es „nicht so leicht haben“… Ein seltsames verbindendes Element für einen Sender wie den Deutschlandfunk.
Ich wünsche mir mehr (journalistische) Analysen, die diese Ambivalenzen berücksichtigen und offenlegen, dass ein Leben mit Behinderung im Kapitalismus ebenso wenig frei von Widersprüchen sein kann, wie das Leben von Nichtbehinderten. Ich wünsche mir Berichte über Rollstühle, die Lösungen sind, keine Symbole für Ausschluss und Nicht-Fähigkeit, deren Benutzer_innen mal erfolgreich sind und mal scheitern, am Leben, nicht nur an ihrer Behinderung.